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Gedanken zur Marienkirche in Wismar (Dezember 2001) von Matthias Friske


Ein aktueller Besuch in Wismar zeigt wie viele positive Veränderungen im letzten Jahrzehnt geschehen sind. Die Hansestadt mit dem geschlossen Stadtbild der zahlreichen Bürgerhäuser, mit der malerischen Hafenlage und dem wohl beeindruckendsten Ensemble an Sakralbauten der Backsteingotik präsentiert ihren Reichtum wieder in sichtbarem Glanz.

Vor allem der Baufortschritt an der Georgenkirche zeigt die eingetretene Wende. Von einer Wende ist deshalb zu sprechen, weil gerade die Zeit zwischen 1945 und 1990 einen bedrückenden Prozeß des Verfalls mit sich brachte. Er begann mit dem Bombenangriff vom April 1945, setzte sich fort mit dem Vandalismus gegenüber den Trümmern dieses Angriffs, worunter die eilige Beräumung des Marienkirchhofsplatzes und einiger wertvoller Bürgerhäuser, sowie die Zerstörung wichtigen Inventars fallen, kulminierte in der Sprengung der Marienkirche im August 1960 und zeigte sich danach in schleichendem Verfall.
Schlußpunkt dieser Entwicklung war der Einsturz des Nordgiebels der Georgenkirche im Januar 1990. Dieser Verfallsprozeß kann als eine bewußte staatliche Entscheidung gegen die großen Traditionen Wismars gelten und nur das Engagement zahlreicher Bürger bewahrte die Stadt vor noch größeren Verlusten.
So ist die augenblickliche Restaurierung der wertvollen Substanz in der gesamten Stadt innerhalb der alten Mauern auch eine Rückbesinnung auf die Geschichte der Hansestadt.
Mit dem Fortschreiten der Arbeiten an der Georgenkirche stellt sich nun die Frage, wie die ursprünglichen Zusammenhänge der zahlreichen Wismarer sakralen Kunstwerke wieder sichtbar gemacht werden können. Beginnend mit der Säkularisierung der Klöster fand eine Umgruppierung statt, die letztendlich dazu führte, daß heute die meisten Ausstattungsstücke nicht mehr an ihren ursprünglichen Plätzen stehen, sondern in Heilig-Geist- und Nikolaikirche provisorisch untergebracht sind.

Die fortschreitenden Arbeiten in der ganzen Stadt lassen aber Bilanz ziehen, was die traditionsfeindliche SED-Ideologie an Lücken hinterlassen hat und lassen fragen, wie mit damit umzugehen ist.
Die Bilanz sieht im Ganzen recht positiv aus, wenn man das Stadtbild betrachtet und es vielleicht noch mit anderen Städten vergleicht. Dennoch gibt es an einer zentralen Stelle, eine Dominante des Stadtbildes die extrem in Mitleidenschaft, ja beinahe zerstört wurde: der Platz um die Marienkirche. Bis 1945, eigentlich sogar noch bis 1960, wurde dieser Platz durch ein einmaliges Ensemble von Backsteinbauten geprägt. In einem Halbkreis gruppierten sich südlich um die Marienkirche die Kapelle Maria zur Weiden, die Alte Schule, das Pfarrhaus und das Archidiakonat. Die Gruppe von Gebäuden setzte sich dann fort über den Fürstenhof zur Georgenkirche hin, so daß der Gang vom Markt bis zur Georgenkirche ein einmaliges architektonisches Erlebnis wurde, in dem die ehemalige Größe Wismars quasi Stein geworden war.
Die Bedeutung dieses in direkter Marktnähe gelegenen Mittelpunktes der Altstadt ist kaum zu unterschätzen. Es ist zunächst eine geschichtliche Bedeutung, denn hier befand sich das Viertel der vermögenden Kaufleute, die maßgeblich zur Bedeutung Wismars im Mittelalter beitrugen. Mit der Marienkirche verknüpften sich die Erinnerungen an die Kaufmannsfamilien, ohne die Wismars Geschichte sicher anders verlaufen wäre. Gerade diese Bedeutung dürfte auch der Hauptgrund für die in ideologischer Verblendung erfolgte Zerstörung der Marien- bzw. die Vernachlässigung der benachbarten Georgenkirche sein.
Abgesehen von der erwähnten Bautengruppe war der Platz maßgeblich durch die Marienkirche bestimmt. Mehr noch ist es aber ein städtebauliche und eine architekturgeschichtliche Bedeutung. So war die Marienkirche eine der wichtigsten Rezeptionen der Lübecker Marienkirche. Sie wurde zum architektonischen Ausgangspunkt für die übrigen Wismarer Kirchen. Wahrscheinlich noch wichtiger war jedoch ihre städtebauliche Dominanz. In der Fernwirkung prägte sie die Silouette Wismars entscheidend. Ihr Chor, gesteigert durch den Turm, war der markante Blickfang vom Marktplatz aus. „Wie die Beine einer versteinerten Riesenspinnenbeine“ (Ricarda Huch) ragten die Strebepfeiler über die Seitenschiffe. Neben dieser Perspektive vom Markt aus, war es vor allem der Blick vom Meer, für den die Marienkirche unverzichtbar war.

Einzige Relikte des Marienkirchplatzes sind gegenwärtig der Turm der Marienkirche, mit den Nebenhallen des Vorgängerbaues der Basilika und das Archidiakonat mit einem restaurierten und einem modernisierten Giebel. Mittlerweile beginnt jedoch die Georgenkirche wieder ihre alte Gestalt anzunehmen und auch der Marktplatz erstrahlt in neuem Glanz. Umso schmerzlicher macht sich die städtebauliche Lücke bemerkbar, die sich zwischen diesen beiden markanten Punkten der Wismarer Altstadt auftut. Hier existiert eine regelrechte Wunde, die durch die kürzlich erfolgte Schließung der Turmnebenhallen, bei weitem nicht geheilt wurde.
Städteplanerisch besteht eine beinahe zwingende Notwendigkeit diese Lücke wieder zu schließen, denn die Parkplatzlösung dürfte sicher nicht von Dauer sein. Die gewaltsam herbeigeführte beinahe völlige Auslöschung der Geschichte durch die DDR, dürfte kaum akzeptabel sein. Beispiele aus anderen Städten zeigen dies sehr deutlich. Erinnert sei dabei nur an den geplanten Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses, der dortigen Garnisonkirche oder die Diskussion um die Gestaltung des Berliner Schloßplatzes.
Das heißt, daß in Wismar in Zukunft einer oder mehrere Bauten an dieser Stelle zu erwarten sind. Selbst wenn dies nicht geschehen sollte ist jedoch vorher sorgfältig zu überlegen was wie an dieser Stelle zu geschehen hat. Grundvoraussetzung dürfte dabei sein, den gesprengten Baukörper der Marienkirche soweit wie möglich wieder zum Leben zu erwecken. Da es zunächst utopisch erscheinen dürfte die Kosten für einen Wiederaufbau aufzubringen, kann die zweite Voraussetzung nur sein, darauf zu verzichten „vollendete Tatsachen“ zu schaffen.
Eine Rekonstruktion muß zumindest kommenden Generationen ermöglicht werden.
Mit dem Wort „Wiederaufbau“ ist sicher ein Reizwort in die Diskussion eingebracht worden. Bevor in diese Richtung weitergegangen wird sind natürlich Fragen einer Gestaltung und Nutzung zu klären. Dennoch sollte nicht vorschnell gegen ein Vorhaben entschieden werden, daß mit Sicherheit über mehrere Jahrzehnte angelegt ist. Ob es sich bei einem Wiederaufbau um eine Rekonstruktion oder einen architektonisch adäquaten Entwurf handeln wird, ist fürs erste sicher offen. Eine Rekonstruktion in einer derartigen Größenordnung ist sicher außergewöhnlich, wenn auch nicht unmöglich wie die Dresdner Frauenkirche oder die vielen Rekonstruktionen durch die polnische Denkmalpflege zeigen. Allerdings kann es sich hierbei nur um ein Projekt handeln, daß finanziert wird über die Grenzen Wismars hinaus und auch die zeitliche Dimension würde etwas weiter gefaßt werden müssen. Die Dresdner Frauenkirche dürfte in mehreren Punkten vorbildhaft sein. Der Unterschied, daß in Dresden (zum Teil) mit dem alten Material gebaut wird, ergibt sich einfach daraus, daß 1960 bewußt alle Steine der alten Marienkirche vernichtet wurden. Er gibt jedoch zugleich die Chance kostengünstigere Konstruktionen anzuwenden.

Verdeutlichen wir uns die Ausgangssituation zur Marienkirche. Turm und Seitenhallen der Marienkirche sind komplett erhalten und sorgen dafür, daß zumindest der alte Standort der Marienkirche auch weiterhin in Erinnerung bleiben wird. Diese günstige Voraussetzung, ermöglicht zusammen mit der Tatsache, daß der Bauplatz noch frei ist, überhaupt erst das Vorhaben (im Gegensatz z. B. zu der Rostocker Jakobikirche, die leider vollkommen vernichtet bleiben wird). Zudem existieren eine Vielzahl von Ausstattungsstücken. Summiert man diese, so gelangt man zu einer stattlichen Zahl, wesentlich mehr, als viele komplett erhaltene Kirchen vorweisen können. Zumindest bei dem Taufbecken wäre deshalb zu fragen, ob es nicht schon jetzt an seinen ursprünglichen Aufstellungsort, im Turm der Marienkirche, aufgestellt werden könnte. Der Innenraum einer rekonstruierten Kirche könnte mit den zahlreichen authentischen Relikten der alten Kirche gefüllt werden. Auch die bauliche Gestalt des verlorenen Teils der Kirche ist gut dokumentiert. Zudem wäre die Rekonstruktion der Schiffe und des Chores nur ein Anbau an die originalen Teile des Turmes, so daß gut ein Fünftel der Bausubstanz der Kirche als ursprünglich bezeichnet werden könnten.

Erster Schritt des dargelegten Planes müßte es sein, finanzkräftige Stifter zu finden, mit deren Hilfe eine Stiftung ins Leben gerufen werden könnte. Das Projekt „Wismarer Marienkirche“ könnte dabei eine Art Fortsetzung der Rekonstruktion der Georgenkirche sein. Kontinuierliche Bautätigkeiten würden es zudem einer zu schaffenden Bauhütte ermöglichen, sowohl an der Marienkirche zu arbeiten, als auch Ausbesserungstätigkeiten an den anderen großen Kirchen vorzunehmen. Ein solches Projekt würde zudem den Bekanntheitsgrad Wismars nicht unerheblich steigern und somit direkten Einfluß auf Tourismusströme haben.
Der Wiederaufbau kann dabei nur schrittweise erfolgen, wobei bestimmte Nahziele angepeilt werden können.
Als ersten Schritt (und Minimalziel für die Platzgestaltung) müßte es darum gehen den Grundriß der alten Kirche wahrnehmbar zu machen. Das heißt die Fundamente müssen sorgfältig konserviert und im Pflaster sichtbar gemacht werden.
Ein zweiter Schritt (möglicherweise der Anfang eines Wiederaufbaus) könnte dieser Grundriß „erlebbar“ gemacht werden. Dies könnte dadurch geschehen, daß die Außenmauern (einschließlich der Pfeiler) bis zu einer Höhe von wenigen Metern wieder aufgemauert werden. Eine provisorische Überdachung würde dann die Nutzung des so entstandenen Raumes ermöglichen.
Der nächste Schritt könnte dazu dienen den Raumeindruck wahrnehmbar zu machen. Das würde bedeuten, die Dimensionen der Kirche zumindest von außen wiederherzustellen, so daß die Fernwirkung und prägende Gestalt für die Stadtsilouette wiedergewonnen wird. Eine Innengestaltung könnte modern erfolgen, z. B. durch das Einziehen von Zwischendecken. Mit der Entscheidung die rekonstruierte Georgenkirche wieder kirchlich zu nutzen, entfällt sicher die Variante einen sakral genutzten Bau zu planen, denn Kirchen gibt es in Wismar für die wenigen Mitglieder tatsächlich genug. So wäre an eine museale Nutzung zu denken, bei der den originalen Stücke der Marienkirche ein zentraler Stellenwert zukommen würde. Die Kirche könnte auch eine zentrale Bedeutung für die denkmalpflegerische Betreuung der gesamten Bauten der Backsteingotik bekommen. Die ästhetische Qualität des Mittelschiffes würde es naheliegen, zumindest dieses auch im Inneren in der alten Gestalt wieder zu errichten.
Damit ist zugleich der vierte Schritt erreicht, die Erlebbarkeit des Raumeindruckes. Sie ist natürlich nur bei der Rekonstruktion wesentlicher Teile des Innenraumes zu erreichen. Ein Minimum wäre die Wiederherstellung des Mittelschiffes.

Ein Projekt Marienkirche würde – sollte es jemals über Stufe 1 und 2 hinausgelangen – sicherlich mehrere Jahrzehnte umfassen. In dieser langen Zeit wird man auch die Frage der südlichen Randbebauung des Platzes klären können.

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